VERGESSENE UMWELTGESCHICHTEN
Havarien und Industrieunfälle in der DDR
Es ist der Morgen des 28. März 1988, kurz vor sieben Uhr - in einer Kaverne zwischen den Orten Teutschenthal und Bad Lauchstädt unweit der anhaltinischen Großstadt Halle an der Saale wird ein Druckabfall registriert. Alle Versuche, wieder auf die Normgröße von 60 at zu kommen, scheitern. Nach etwa einer Stunde gibt es erste Gasaustritte. Gegen Mittag wird Havariealarm ausgelöst - 15 Uhr strömt an etwa 20 Stellen Gas aus dem Boden. Ein Riss, der ständig wächst, durchzieht das Erdreich - gegen 17 Uhr ist die Erosion bereits einen Kilometer lang sowie zwischen einem Zentimeter und einem Meter breit. An einigen Stellen werden geysirähnliche Ausbrüche beobachtet, ein Gemisch aus Ethylen, Schlamm und Wasser - Fontänen von bis zu fünf Metern. Es entsteht eine Gaswolke, die sich gegen 20 Uhr auf vier Kilometer ausdehnt. Obgleich Ethylen nicht giftig ist, werden etwa 100 Einwohner am Ortsrand von Teutschenthal evakuiert. Der Grund: Die Gaswolke ist hochexplosiv. Niemand weiß zu diesem Zeitpunkt etwas über die Ursachen. Es herrscht hektische Betriebsamkeit am Unglücksort. Die Familien werden von Kommunalbehörden und der zuständigen SED-Kreisleitung betreut (*).
Doch so unerwartet, wie das Geschehen eskaliert ist, tritt eine Entspannung ein. Das Gas verflüchtigt sich aufgrund der Witterungsverhältnisse am späten Abend. Gegen 22 Uhr liegt die Konzentration erstmals unterhalb der Explosionsgrenze. Zwei gesperrte Fernverkehrsstraßen und eine Bahnstrecke werden noch in der Nacht wieder freigegeben. Ein Beinahe-Unglück. Später wird im Bericht an das SED-Zentralkomitee stehen, niemand sei zu Schaden gekommen, auch wenn sich zahlreiche Bewohner mit Bindehautreizungen in ärztliche Behandlung begeben mussten. Produktionseinbrüche für die Verbraucher - die Chemieunternehmen Leuna und Buna im Raum Merseburg - sind hingegen nicht zu verzeichnen. Ganz im Gegenteil, nach der Havarie wird entschieden, die Kaverne, in der etwa 9.000 Tonnen Ethylen lagern (Grundstoff für Plastikwerkstoffe und chemische Zwischenprodukte), zu leeren. Allerdings können Buna und Leuna pro Stunde nur zehn Tonnen abnehmen, so dass entschieden wird, das Gas in einen anderen Untergrundspeicher zu leiten.
Bei der Suche nach den Gründen der Havarie herrscht noch Monate nach dem 28. März 1988 trotz intensiver Recherchen teilweise Ratlosigkeit. Es sei von einer tektonischen Verschiebung oder einem Gebirgsabriss auszugehen, heißt es. Absolute Sicherheit gibt es nicht.
In Teutschenthal bei Halle blieb die Bevölkerung verschont, bei anderen Havarien in DDR-Industriebetrieben, aber auch in der Land- und Forstwirtschaft, oder bei schweren Bränden hingegen waren nicht selten Opfer zu beklagen. Während die Umweltschäden nach 1989 allerorten in Ostdeutschland in der Regel gründlich analysiert und zum Teil erstaunlich schnell beseitigt wurden, trat die Rekonstruktion dieser Vorgänge in den Hintergrund.
Doch allein 1983 wurden in der DDR 1.145 Brände, 331 Havarien und 67 Explosionen in Wirtschaftsunternehmen gezählt. Dabei fanden 18 Menschen den Tod, 85 wurden zum Teil schwer verletzt. Was sich in den vorhandenen Archiven nur schwer recherchieren lässt, das sind Umweltschäden, die durch Katastrophenfälle im einzelnen verursacht wurden.
VC-Alarm in Bitterfeld
Der 11. Juli 1968 im Chemiekombinat Bitterfeld ist ein Tag, von dem die DDR-Ökonomie lange gezeichnet bleiben soll. Die Vorgänge dort führen - neben dem Grubenunglück am 22. Februar 1960 im Zwickauer Steinkohlebergwerk Karl-Marx (123 Tote) sowie dem Inferno von Langenweddingen 1967, als ein Tanklaster in einen Personenzug rast - zu einer der schlimmsten Katastrophen zwischen Oder und Elbe nach 1945.
Während der Frühschicht entdecken Arbeiter bei einem der zwölf Autoklaven, in denen die PVC-Gewinnung erfolgt, undichte Stellen, normalerweise kein Grund zur Besorgnis, da bei Druckänderungen am Autoklav das gasförmige Vinylchlorid oft einfach abgelassen wird. So ist es auch an diesem 11. Juli. Vor Schichtwechsel gelingt es nicht, die lecken Stellen zu beseitigen. Der Autoklav, in dem bereits Vinylchlorid in großen Mengen eingeströmt war, soll dann aber vollständig entleert werden, um eine neue Dichtung im Manometerflansch einziehen zu können. Wie üblich wird das Gas abgelassen - ein Verfahren, das häufig bei den Arbeitern wegen der narkotischen Wirkung des Vinylchlorids zu Bewusstseinsstörungen führt. Eine Hupe signalisiert den Austritt von Vinylchlorid - so genannter "VC-Alarm" -, an diesem Tag jedoch ist die Gaskonzentration entschieden zu hoch.
Um 14.02 Uhr - die nächste Schicht hat sich noch gar nicht auf die Arbeit eingestellt - erschüttert eine gewaltige Detonation das Werksgelände und ganz Bitterfeld. Noch in Muldenstein, einer Gemeinde etwa sechs Kilometer vom Unglücksort entfernt, bersten Fensterscheiben. 42 der 57 Arbeiter in der PVC-Halle sind sofort tot. Über 200 Verletzte müssen ärztlich versorgt werden. Die Detonationswelle walzt große Teile des Betriebes nieder. Wegen des weiter ausströmenden Vinylchlorids kann drei Tage lang nicht mit Schneidbrennern gearbeitet werden, statt dessen müssen die Rettungsmannschaften mit bloßen Händen und einfachem Gerät die Opfer bergen. Die Zerstörungen in Bitterfeld sind enorm - 80 Millionen Mark direkter Sachschaden. Das Werk wird nicht wieder aufgebaut, die Produktion sofort nach Schkopau zum Buna-Kombinat verlagert.
Nach dem Unglück verschärft die DDR rigoros sämtliche Bestimmungen des Arbeits-, Gesundheits- und Brandschutzes. Diese Kampagne bringt bis 1971 insgesamt zehn neue Verordnungen auf den Weg. Bitterfeld sorgt vor allem in einer Hinsicht für Zäsuren: In den Industrieministerien der DDR-Regierung wird klar, dass sich die Maxime - der Produktionsplan ist Gesetz, koste es, was es wolle - zuallererst gegen Mensch und Umwelt richtet. Und es wird deutlich, dass neben dem Arbeits-, Gesundheits- und Brandschutz auch für die Ökologie etwas getan werden muss.
Eine Konsequenz ist 1970 das von der Volkskammer beschlossene "Landeskulturgesetz". Allerdings ändert dies in den Folgejahren nach 1970 nichts an Störfällen in hoher Zahl, ausgelöst vorzugsweise durch den Verschleiß von Produktionsanlagen, wobei die Untersuchungen von Staatsanwaltschaften und Staatssicherheit häufig auf Fahrlässigkeit, Phlegma und Gleichgültigkeit als Ursache von Havarien erkennen.
Rauchsäule über Schönebeck
Auch kurz vor dem Ende der DDR bleibt die Zahl der Vorfälle, die Katastrophencharakter tragen, erheblich. 1988 etwa werden 3.899 Unfälle an überwachungspflichtigen Anlagen registriert. Dabei finden 31 Menschen den Tod, 463 werden zum Teil schwer verletzt. Der Produktionsausfall wird auf 262 Millionen Mark beziffert. Umweltschutz findet zwar zunehmend in den Berichten der Staatssicherheit Erwähnung, ist aber noch immer kaum ein öffentliches Thema.
Am 9. August 1988 kommt es gegen 18.45 Uhr zu einem Großbrand in einer Halle für Rohstoffe zur Herstellung von Pflanzenschutzmitteln in Schönebeck an der Elbe. Die Lagerkapazität ist zu diesem Zeitpunkt mit 700 Tonnen Material derart ausgeschöpft, dass es keine begehbaren Zwischenräume mehr gibt. Dieser 9. August ist ein schwülheißer Tag. Noch am Nachmittag zeigt die Quecksilbersäule 30 Grad Celsius. Zwei Lagerarbeiter der Spätschicht entdecken auf einem Palettenstapel Rauch, wenig später schlagen Flammen aus dem Gebäude. Die Feuerwehr kämpft vergeblich gegen das Feuer, die Halle brennt innerhalb kürzester Zeit völlig nieder. Eine riesige schwarze Rauchwolke steigt über dem Gelände empor und zieht bald darauf über das Stadtgebiet von Schönebeck. Feuerwehrleute und unbeteiligte Bürger müssen sich wegen akuter Atembeschwerden ärztlich behandeln lassen. Die Volkspolizei fordert über Lautsprecher dazu auf, Fenster zu schließen und die Wohnungen nicht zu verlassen. Es fließen etwa 270 Kubikmeter Löschwasser - verseucht mit einem Chemikalienbrei aus Lenacil, Proximpham und Prometryn - in die Elbe. Bei Proximpham handelt es sich um ein Gift der Klasse II nach DDR-Klassifizierung. Die Regierung Stoph bemüht sich, die Havarie herunterzuspielen. In den entsprechenden Berichten ist die Rede davon, dass die Schadstoffkonzentration in der Elbe noch unterhalb der Gefährdungsgrenze liege. Folgen des Großfeuers würden freilich bei der Schädlingsbekämpfung zur Frühjahrsbestellung 1989 zu spüren sein, da Insektenbekämpfungsmittel nun nicht mehr in ausreichendem Maße zur Verfügung stünden ...